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Die AfD zu TTIP
06.12.2014 08:40

Liebe Mitglieder und Förderer der Alternative für Deutschland,

in meiner Eigenschaft als Europaabgeordneter erreichen mich immer wieder Anfragen zum Stand der Beratungen über das Freihandels- und Investitionsabkommen TTIP zwischen den USA und der EU. Ich stelle Ihnen im folgenden relativ ausführlich dar, was mein diesbezüglicher Kenntnisstand ist. Wer sich für die Details nicht so sehr interessiert, findet weiter unten eine zusammenfassende Bewertung sowie einige Zusatzinformationen aus Gesprächen mit Vertretern von Verbraucherschutzorganisationen und Unternehmensverbänden.

Wie Sie vermutlich wissen, werden die Verhandlungsdokumente überwiegend geheim gehalten, obwohl das Verhandlungsmandat der EU und eine Reihe von Positionspapieren inzwischen veröffentlicht wurden und einige Dokumente auch unabsichtlich "geleakt" sind. Sie finden das Verhandlungsmandat hier, die anfänglich publizierten Positionspapiere der EU (Juli 2013) hier und fünf weitere Positionspapiere (Mai 2014) hier.

Die Verhandlungen begannen im Juli 2013. Inzwischen ist die siebte Verhandlungsrunde abgeschlossen worden. Die Verhandlungen kommen aus mindestens zwei Gründen langsamer voran als ursprünglich angenommen:

1. Im amerikanischen Kongress richtet sich das Hauptinteresse derzeit auf das Trans-Pazifische Partnerschaftsabkommen, das bereits weiter ausgehandelt ist als TTIP. Darüber hinaus sind die Abgeordneten mit der Trade Promotion Authority Bill (TPA) befasst, die die Kompetenzen der US-Regierung in Freihandelsverhandlungen zu Lasten des Kongresses erhöhen soll.

2. Die EU hat aufgrund des starken öffentlichen Widerstands gegen die sog. Investorenschutzbestimmungen (Investor-to-State-Dispute Settlements, ISDS) eine öffentliche online-Konsultation veranlasst, die am 13. Juli 2014 abgeschlossen wurde. Die daraufhin eingegangenen fast 150.000 Stellungnahmen werden derzeit ausgewertet. Ein Abschlussbericht wird in Kürze erwartet.  Verhandlungen zu ISDS sind daher bislang noch nicht geführt worden. 

Die TTIP-Verhandlungen sind in drei "Säulen" organisiert: Marktzugang, Regulierung und Regeln.

1. Säule: Marktzugang
Der Marktzugang wird zum einen durch Zölle beschränkt, zum anderen durch sog. nichttarifäre Handelshemmnisse. Zu letzterem zählen vor allem gesetzliche Bestimmungen, z. B. Verbraucherschutzbestimmungen, Sicherheitsvorschriften, Industriestandards, Umweltauflagen etc. Während Handelsabkommen früher primär Zollsenkungen vereinbart haben, sind in den TTIP-Verhandlungen Zölle von deutlich geringerer Bedeutung als nichttarifäre Handelshemmnisse, weil viele Zölle bereits im Rahmen von GATT- und WTO-Verhandlungen relativ stark abgebaut wurden.

Für produzierte Waren haben beide Seiten Angebote für Zollsenkungen vorgelegt. Während die EU die Zölle um durchschnittlich 85% senken will, streben die USA eine durchschnittliche Zollsenkung von anfangs 69% an. Die EU hat daraufhin verlangt, dass die USA ein verbessertes Angebot vorlegt, bevor in den drei Bereichen Waren, Dienstleistungen und öffentliche Auftragsvergabe weitere Fortschritte erzielt werden. Die USA setzen dieser Forderung aber erheblichen Widerstand entgegen und deshalb wird jetzt augenscheinlich doch produktweise über die zu vereinbarenden Zölle verhandelt. Bei Agrarprodukten und Lebensmitteln konzentrieren sich die Verhandlungen vor allem auf nichttarifäre Handelshemmnisse, jüngst u. a. bei Wein und Spirituosen.

Im Bereich der Dienstleistungen ist dem Vernehmen nach in der 7. Verhandlungsrunde vereinbart worden, Bildung und Wasserversorgung nicht im Abkommen zu erfassen. Im Bereich anderer Dienstleistungen (z. B. Telekommunikation, Energie, Transport, Post-  und Finanzdienstleistungen, Gesundheit, digitale Produkte etc.) gibt es große Differenzen zwischen den Verhandlungspartnern, weil die EU eine "Positivliste" anstrebt (Handel in allen Dienstleistungen, die auf der Liste ausdrücklich erwähnt sind), während die USA eine "Negativliste" vorziehen (Handel in allen Dienstleistungen, die nicht auf der Negativliste ausdrücklich erwähnt sind). Diese Meinungsverschiedenheit behindert derzeit den Fortschritt in diesen Verhandlungen. Zudem weigert sich die EU, Finanzdienstleistungen zu verhandeln, weil die USA zögern, sich auf eine Kooperation im Bereich der Regulierung von Finanzdienstleistungen einzulassen. Schließlich gibt es große Meinungsverschiedenheiten im Telekommunikationskapitel (u. a. bei Leitungszusammenschlüssen, Universaldiensten, Streitbeilegung, der Regulierungsbehörde und Transparenzerfordernissen) und beim e-Commerce (u. a. Zöllen, digitalen Produkten, elektronischen Unterschriften, online Verbraucherschutz, papierlosem Handel und bei Bestimmungen über Zugang und Nutzung des Internets.)

 

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Im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe sind m. W. noch keine wechselseitigen Angebote vorgelegt worden, da die USA diese Verhandlungen erst nach den Kongresswahlen eröffnen wollten. Zugeständnisse der USA in diesem Bereich sind von besonderer Bedeutung für europäische Anbieter, sodass die USA hier möglicherweise auch aus strategischen Gründen verzögern, um derartige Zugeständnisse später als "Verhandlungschip" einsetzen zu können.


2. Säule: Regulierung
Komplexe Regulierungsfragen kommen in allen wesentlichen Produktkategorien auf. In der 7. Verhandlungsrunde hat die EU einen Textvorschlag für gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Vorschriften gemacht. Ein Gegenvorschlag der USA liegt noch nicht vor. Im Allgemeinen werden technische Handelshemmnisse diskutiert: Bei Kraftfahrzeugen ging es um die wechselseitige Anerkennungsfähigkeit existierender Regulierungen und Sicherheitsvorschriften, bei Chemikalien um Klassifikation und Kennzeichnung, bei Pharmazeutika um Produktionsstandards, bei Informations- und Telekommunikationsprodukten u. a. um Konformitätsprinzipien, e-labelling und Verschlüsselungstechnologien usw. Um die Regulierungsdifferenzen zu mindern, setzt die EU auf direkte Regeländerungen durch zwischenstaatliche Vereinbarungen, während die USA der amerikanischen Tradition eines transparenten Verfahrens durch öffentliche Konsultationen (notice-and-comment rulemaking) folgen wollen. Der Dissens ist noch nicht gelöst.

 
3. Säule: Regeln
Im Bereich der Regelentwicklung liegen noch keine Textentwürfe für die Bereiche Arbeit und Umwelt im Kapitel "Nachhaltige Entwicklung" vor. Zum Investorenschutz (ISDS) werden Verhandlungen erst nach Vorliegen des Berichts zum öffentlichen Konsultationsverfahren aufgenommen. Demgegenüber haben beide Seiten Textvorschläge eingebracht für zwischenstaatliche Streitschlichtung (SSDS), Umgang mit technischen Handelshemmnissen, Schutz des geistigen Eigentums, Wettbewerbsrecht, Warenverkehr, Zoll- und Handelsvereinfachung, Herkunftsregeln und Bestimmungen über die Einbeziehung und Folgenabschätzung für kleine und mittlere Unternehmen. Bei manchen Fragen sind die Ansichten beider Seiten inzwischen in einem Dokument konsolidiert, obwohl auch dabei oft noch erhebliche Meinungsverschiedenheiten verbleiben. 


Zusammenfassende Bewertung:
Ein Abschluss der Verhandlungen ist noch nicht abzusehen. (Es gibt zwar Überlegungen der italienischen Ratspräsidentschaft und des Vorsitzenden des Handelsausschusses Bernd Lange (SPD), die relativ unkontroverse erste Säule aus den TTIP-Verhandlungen herauszulösen und vorab dem Parlament zur Beratung und zur Beschlussfassung vorzulegen. Dies wird jedoch von den meisten EU-Mitgliedsstaaten abgelehnt.) Die Beschlussfassung im EU-Parlament zu TTIP liegt daher vermutlich noch in weiter Ferne.

In allen Gesprächen, die ich geführt habe (auch in Gesprächen mit Verbraucherschutzorganisationen), wurde hervorgehoben, dass TTIP sehr positive Wirkungen für den Bürger haben kann: mehr Arbeitsplätze, niedrigere Preise und eine größere Produktauswahl. Grundsätzlich wird anerkannt, dass TTIP zu einem Abbau von Bürokratie führen kann, weil Regulierungen vereinheitlicht werden und exportierte Güter nicht einer doppelten Überprüfung von Sicherheits- oder Verbraucherschutzstandards unterzogen werden müssen. Verbraucherschutzorganisationen sind allerdings besorgt darüber, dass in TTIP bestimmte Verbraucherschutzstandards festgeschrieben werden könnten, die sich aufgrund von Investorenschutzbestimmungen oder weil sie vertraglich fixiert sind, nicht mehr fortentwickeln lassen. Diese Sorge besteht vor allem bei Lebensmitteln, bestimmten Chemikalien, Pharmazeutika und Kosmetika. Bei anderen Produktkategorien wird die Vereinheitlichung der Regulierung auch von den Verbraucherschützern überwiegend positiv gesehen.

Ein gesondertes Problem sind die Investorenschutzbestimmungen ISDS, die auf breite Ablehnung (so auch bei der AfD) stoßen. Als ich diese Mail zu schreiben begann, hatte ich vor, abschließend auch auf ISDS einzugehen. Da aber meine Mail schon zu lang geworden ist und die Verhandlungen zu ISDS ohnehin derzeit ruhen, will ich für heute davon Abstand nehmen. Sollte Interesse daran bestehen, gehe ich gerne bei anderer Gelegenheit vorrangig auf ISDS ein: Auf die Gründe, weshalb ISDS überhaupt erwogen wird, und auf die Argumente, die gegen einen solchen Investorenschutz sprechen.

Für heute will ich es bei der Information über den Stand der Verhandlungen belassen. Es wird noch viel Zeit ins Land gehen, ehe TTIP dem Europaparlament zur Beratung und Beschlussfassung vorgelegt wird. Und selbst bei dem CETA, dem Freihandelsabkommen zwischen Kanada und der EU, steht keine Entscheidung unmittelbar bevor. Denn für CETA liegt zwar inzwischen ein ca. 1600 Seiten umfassender Abkommenstext in englischer Sprache vor. Dieser muss jedoch zunächst noch auf juristische Konsistenz hin überarbeitet und dann in alle 25 Amtssprachen der EU übersetzt werden. Es wird Monate, vielleicht sogar ein knappes Jahr dauern, bis der Text den Europaabgeordneten vorgelegt wird. Wieviel Zeit uns dann zur Beratung von 1600 Seiten gegeben wird, steht in den Sternen. Aber sicher ist, dass auch zu CETA keine kurzfristige Entscheidung erfolgen wird.


Bernd Lucke

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